Hochsommer in Rosebud, Süddakota, mitten in den USA. Ungefähr hundert Männer tragen gemeinsam einen mit Äxten gefällten Baum, der sehr groß und schwer ist, die Straße entlang, um ihm an Ende auf dem runden Tanzplatz einer indianischen Sonnentanz-Zeremonie aufzustellen. Es ist „Tree Day“, der vierte der „Purification“ Tage, die der Vorbereitung und inneren Reinigung dienen, um danach an der eigentlichen Tanzzeremonie teilzunehmen, die ebenfalls vier Tage dauert.
In diesem Sommer hatte ich die Gelegenheit, eben diese Zeremonie zu besuchen, und als „Supporter“ die Tänzer und Tänzerinnen zu unterstützen. Neben dem Kontakt zur heutigen Kultur und Lebensweise der Lakota-Indianer interessierte mich dabei auch die Frage, welche Bilder und Kulturen von Männlichkeit mir dabei begegnen würden. Die Vielfalt und der existenzielle Ernst die ich dabei erlebte, beschäftigen mich immer noch nachhaltig.
Ich erlebte die Lakota als stolzes, aber auch gebrochenes Volk, das in großer Armut lebt. Viele betonten, der Sonnentanz, das seien die „guten acht Tage“ im Jahr. Sie sind sich des initiatischen Charakters der Zeremonie sehr bewusst und sehen die Notwendigkeit, auf diese Weise ihre Identität zu stärken und zu erhalten und halten diese hoch. Heute können sie es offen tun. Bis in die 70er Jahre des letzten Jahrhunderts waren die Kultur und Zeremonien der Lakota ganz oder teilweise verboten und konnten nur heimlich gelebt werden.
Für die Lakota hat der Sonnentanz die Aufgabe, die Kontinuität des Lebens sicherzustellen. Ein weiteres Jahr Leben und Lebendigkeit für das Volk und die Welt zu ermöglichen. Folgerichtig grüßen sich am Ende des vierten Tages auch alle mit „happy new Year“.
Der am Tree Day gemeinsam aufgestellte Baum symbolisiert den Baum des Lebens als Verbindung von Himmel und Erde. Die Zeremonie ist auf diese Mitte hin ausgerichtet, in der Anlage des Tanzplatzes und im Fokus der Spiritualität. Der Baum wird reich geschmückt mit „Offerings“, bunten Tüchern und Tabakbeutelchen, die Gebete und Anliegen repräsentieren. Die Tanzenden verbringen die vier Tanztage in strenger Choreografie in dieser Verbindung von Himmel und Erde als Mitte der Schöpfung und Ursprung des Lebens.
Die Männer sollen dabei in der Zeremonie die Gelegenheit haben, etwas zum Erhalt des Lebens dazu zu geben, etwas zu opfern und letztlich mit den Frauen gleichzuziehen, die allein durch das Gebären schon ein großes Opfer von Schmerz und Entbehrung bringen. Die Männer tun dies nun, indem sie sich den enormen körperlichen Strapazen der viertägigen Tanzzeremonie aussetzen.
Gemeinsame Kraft
Gerade am Tree Day konnte ich als Supporter die Kraft der Gemeinschaft intensiv erleben. Es war eine Aktion, die mir hart die Grenzen meiner Bedeutsamkeit aufzeigte. Der gemeinsam getragene Baum war so schwer, dass ich als Einzelner keine Chance hatte, einen Effekt meines Handelns zu erleben. Im Gegenteil: wenn er mit der Zeit nach unten sank, einfach durch sein Gewicht, konnte ich nichts dagegen tun. Erst eine koordinierte gemeinsame Anstrengung brachte ihn wieder nach oben auf Schulterhöhe.
Der Baum konnte nicht getragen werden ohne die volle Anstrengung jedes einzelnen Trägers. Da es so viele Träger waren, hätte ich aber auch loslassen können – es wäre zunächst gar nichts geschehen, solange bis noch mehr Männer loslassen…
In dieser Weise lud mich der Sonnentanz immer wieder ein, einer Frage nachzugehen. Warum nehme ich teil? Wegen meinem eigenen Erlebnis, dem exotisch, archaischen Flair? Oder um mich in einen größeren Zusammenhang einzufügen?
Die Spannung lag im Verlauf der Zeremonie für mich darin, zu erleben, dass ich eigenständig, aber nicht (nur) für mich selbst handle, ich aber auch nicht einfach ein austauschbarer Teil einer Masse bin. Mein eigenes Handeln ist ausgerichtet auf ein gemeinsames Ziel. Die Lakota sind gut darin, jedem Einzelnen in seinem Engagement Wertschätzung zu geben. Meine Identität wird gestärkt und dreht sich gleichzeitig nicht nur um mich.
Ob ich dabei als Tänzer an der Zeremonie teilnehme, oder als Supporter, macht zwar in der Frage der Anstrengung einen großen Unterschied, die Übung, mein Ego und mein Handeln mit dem gemeinsamen Ziel in Verbindung zu bringen, stellt sich mir aber trotzdem. Küchendienst, Toiletten reinigen und andere Arbeiten im Camp sind ebenfalls Teil der Zeremonie – Work is prayer!
Diese Frage trage ich als Haltung und Suchbewegung nach dem Sonnentanz weiter. Wie ist mein Handeln ausgerichtet? Was bin ich bereit zu opfern, damit das Leben weitergeht und wo bin ich bereit dazu – in der Familie, im Job, im Ehrenamt? Um dies herauszufinden braucht es Beharrlichkeit, Geduld und Bereitschaft.
Schildkrötentempo
Nun ist es sowohl am Sonnentanz als auch in meinem Alltag so, dass mein Ego sich durchaus gerne als etwas Besonderes hervortut. Natürlich gibt es auch unter Tänzern und Supportern Männer (und Frauen) mit gewaltigem Ego und Darstellungsbedürfnis, für die eine solche Zeremonie eine große Bühne darstellt. Der Faktor, der mir dann hilft, die wichtigen Schritte und Wege zu erkennen und in der Ausrichtung zu bleiben, ist die Zeit. Vier Tage Sonnentanz lassen manch darstellerische und egozentrische Ambition in der Sonne zerschmelzen und können auf diese Weise sehr reinigend wirken.
In einem Teaching lud einer der leitenden Häuptlinge, Leonard Crow Dog Jr. genau dazu ein: aufmerksam dem Leben seine Zeit lassen. Nicht versuchen, die vermeintlichen Umwege und schwierigen Zeiten abzukürzen, sondern sie als wichtige Erfahrungen zulassen und in Ruhe ganz durchschreiten. Wie in einem mäandernden Fluss jede Biegung mitgehen. Dazu muss ich mich immer wieder meinen Ängsten stellen. Mit der Zeit aber finde ich meine Richtung und Ausgerichtetheit und gewinne eine größere Freiheit – vermutlich im Schildkrötentempo.
Die Schildkröte jedoch steht bei den Lakota in hoher Achtung als Hüterin des Lebens, der Langlebigkeit und Standhaftigkeit. Oder wie Leonard Crow Dog es ausdrückt: „Everything that’s good comes on the Back of a turtle.“
Eine Anmerkung zum Schluss: Das Titelbild zeigt einen Sonnentanz-Platz in Süddakota. Da die Zeremonie selbst nicht fotografiert oder abgebildet werden darf, setzt der Rest des Artikels ganz auf die Vorstellungskraft des Lesenden.
Bildquellen
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